Verena Giesinger

Verena Giesinger

Dirigentin des Schmusechors

4 Min.

© Helga Traxler

Eine Musiktherapeutin aus Altach gründet in ihrer Wiener WG einen Chor und wird Dirigentin. Die kurze Geschichte hinter Verena Giesingers Erfolgsprojekt, dem bunten und poptastischen Schmusechor, klingt unscheinbar – ist aber schillernd, funkelnd und genial. Nach zehn Jahren Singen, Performen und Schmusen ist nun endlich das erste Album des einzigartigen Kollektivs erschienen.

Gänsehaut. Ein Gefühl, das sich sofort einstellt, wenn der Schmusechor seine Stimmen erhebt. Gefolgt wird das überwältigende Kribbeln nach einigen Takten von einer unbändig groovigen Lust zu tanzen. Und obwohl es ihre Musik neben dem ersten Live-Album inzwischen auch auf allen Streamingplattformen zum Dancen und Dahinschmelzen gibt, will sich der Blick nicht von den großartigen Outfits, Videos und Performances losreißen. Hinter, nein vor dem Chor steht zudem eine besondere Frau. Verena Giesinger hat mit ihrer grenzgenialen Idee ein neues multidimensionales Genre erschaffen, das sich in keine Schublade zwängen lässt. Klar ist jedoch die Haltung. Sie singen gegen Sexismus und Rassismus – und es klingt fantastisch.

Tradition minus Staub plus Glamour: Beim Neujahrskonzert 2024 im Wiener WUK setzte der Schmusechor neue Standards. |© Hanna Fasching


I’m in love with my future. Billie Eilishs Song haben sie nicht nur genial gecovert, sondern auch zum Motto gemacht. Das war bereits beim ersten queerfeminisitschen Neujahrskonzert der Geschichte 2024 präsent. Und wie ist sie jetzt, die Zukunft, ein Jahr später? True love: Nach dem ersten fulminanten und pluralistischen Neujahrsspektakel mit einer Maestra am Pult – eigentlich ohne Pult, dafür mit inklusiver Performance und ausgeflippt begeisterter Audience – musste der Schmusechor mit dem Neujahrskonzert 2025 aus Platzmangel vom WUK ins Volkstheater umziehen, um eine neue bunte Ära zu besingen. Die Karten waren trotzdem schon Wochen vorher ausverkauft. Noch Fragen?


The future is now. Das aktuelle Neujahrsmotto lautet: „What about my voice?“ Die Frage nach der individuellen Stimme, in einem Chor, in einer Gesellschaft, hat das Ensemble mit einem spannenden Kostümwechsel gestellt – vor dem Vorhang. Von den homogenen Uniformen befreit, sangen und tanzten sie an verschiedensten Körperstellen mit Haarbüscheln verziert und die individuelle Menschlichkeit feiernd auf der Volkstheater-Bühne. „Wir nähern uns somit auch räumlich dem Musikverein immer weiter an“, lacht die Dirigentin. In dessen Neujahrskonzert wird seit einem Jahrhundert brav zum ewig gleichen Takt der ausnahmslos männlichen Dirigenten mitgeklatscht. Beim ­Schmusechor tanzt das ausgelassene Publikum hingegen auf den Stühlen. Dass jede ihrer vielfältigen Stimmen direkt ins Herz geht und die Arrangements genial sind – vom fulminanten Kostümregenbogen des 6-köpfigen Teams um Mave Ventura und Alba Bauer ganz zu schweigen –, Schmusechoralltag.

Weil wir auch versuchen, immer wieder Genderstereotypen aufzubrechen, die sind ja schon noch sehr starr und in unseren Körpern auch eingeschrieben. – Das hat mit Lippenstift angefangen, dass jede Person im Schmusechor Lippenstift trägt, und jetzt brechen wir es immer noch mehr und noch mehr auf.


WG-Kammer-Musik. Eigentlich wollte Verena ­Giesinger nur singen, fand aber keinen Chor, der zu ihren musikalischen Wünschen und ihrer Weltanschauung passte. Die mutige „badass extraordinaire“, wie das Musikmagazin Mica sie nennt, gestaltete ihre Realität selbst und schuf ihren Ideen, gemeinsam mit dem Schmusechor, einen Raum. Gelebte Inklusion und alternative Lebensentwürfe werden hier als das wertgeschätzt, was sie sind: eine Bereicherung. Giesingers kreativer Ansatz hat viele Facetten. Statt im klassischen Casting finden sich beim innovativen Speed-Dating neue Töne fürs Ensemble, das inzwischen stolze 50 Personen zählt und trotzdem schon wieder auf der Suche nach ein paar Bass- und Baritonstimmen ist. Wie man so einen Flohzirkus managt? Giesinger lacht wieder. „Mittlerweise funktioniert das extrem gut und wie jede große Institution – in vielen kleinen, super organisierten Teams.“

© Kristin Hauk


Pop zum Schmusen? Schmusen mit Haltung. Wie wichtig es ist, sich der eigenen Stimme zu bedienen, erlebt die Dirigentin immer wieder. 2022 verzichtete ihr Chor einstimmig (!) auf ein Engagement der Wiener Festwochen, weil sie mit dem Rapper Yung Hurn und dessen Texten mit „unmissverständlich rassistischem und sexistischem Inhalt“ keine Bühne teilen wollten. Nicht zuletzt in dieser starken Positionierung liegt der durchgreifende Erfolg. Authentisch ist sexy und Schmusechor-Kollaborationen gerade deswegen heiß begehrt. So etwa mit dem queer-immersiven Theaterensemble Nesterval. Im März erklingt ein Abend mit Anja Om und aktuell inszeniert Regisseurin Claudia Bauer mit dem Chor Elfriede Jelineks Stück Krankheit oder Moderne Frauen. Mit Mut, Weitsicht und uneingeschüchterter Offenheit hat die Maestra ein Ensemble zum Verlieben erschaffen. Jetzt und in Zukunft.

BH, Lippenstift und Anzug für alle – und das im Bregenzerwald. Arte bezeichnet das queerfeministische Musikkollektiv als „Balsam für die Seele“. | © Kirstin Hauk

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