Starke Dosis: Nahrungsergänzungsmittel im Check

Volle Haare, gesunde Nägel, starkes Immunsystem: Das Geschäft mit Nahrungsergänzungsmitteln boomt wie nie zuvor. Zu recht? Diätologin Karin Ratschiller klärt auf.

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Fett-weg-Booster“, „Energie plus“, „Immun-Komplex“: In jedem Drogeriemarkt gibt es dieses eine Regal mit Produkten, die eine Lösung für nahezu jedes erdenkliche Leiden versprechen. Entsprechend beliebt sind die in Kapsel-, Pulver- und inzwischen sogar Gummibärchenform erhältlichen Vitamin- und Mineralstoffcocktails – fleißig gepusht von reichweitenstarken Lifestyle-Influencer:innen, die ihre porenfreie Haut und glänzende Haarpracht mit der Einnahme ebendieser Erzeugnisse begründen.

Klingt fast zu schön (und zu einfach), um wahr zu sein. Wann Nahrungsergänzungsmittel wirklich sinnvoll sind und worauf es in puncto Qualität ankommt, erklärt die Innsbrucker Diätologin Karin Ratschiller im Interview.

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Karin Ratschiller ist Diätologin und Gesundheitsmoderatorin in der Innsbrucker Praxis INNZENTRUM. © K. Ratschiller

Braucht der durchschnittliche Mensch Nahrungsergänzungsmittel?

Karin Ratschiller: Wir sind in Tirol mit einem Lebensmittelangebot gesegnet, das kaum ein Bedürfnis unerfüllt lässt. Wer omnivor isst (Anm.: Allesesser:innen mit überwiegendem Konsum pflanzlicher Kost, kombiniert mit wenig, dafür qualitativ hochwertigem Fleisch und Fisch), hat grundsätzlich keine Notwendigkeit, Nahrungsergänzungsmittel zu konsumieren. Der Markt an Nahrungsergänzungsmitteln ist unüberschaubar.

Als Diätologin und Ernährungstherapeutin stelle ich fest, dass viele Menschen ohne vernünftige Anamnese wahllos und unkontrolliert vermeintliche Gesundheitsbooster einnehmen. Wer seiner Gesundheit tatsächlich Gutes tun möchte, sollte zuallererst versuchen, alle wichtigen Nähr- und Wirkstoffe über eine ausgewogene, biologisch wertvolle, gesunde Alltagsernährung zu decken.

Gelingt dies nicht, ist eine umfassende Vollblutanalyse bei dem:der Ärzt:in zu empfehlen. Hier können unter anderem Vitamin- und Mineralstoffmängel erkannt werden, die dann mit einer gezielten Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln in Reinsubstanz über einen klar definierten Zeitraum substituiert werden.

Kann der Konsum von Nahrungsergänzungsmitteln in Eigenregie auch gefährlich sein?

Aussagekräftige Studien über die positive wie auch schädliche Wirkung von Nahrungsergänzungsmitteln gibt es aktuell wenige. Die übermäßige Einnahme von antioxidativen Vitaminen A, D, E sowie Selen zeigte in kürzlich veröffentlichen Studien keine lebensverlängernde Wirkung, ebenso wenig Schutz vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Dafür konnten vermehrt Verstopfung, Juckreiz und Magenprobleme festgestellt werden.

Dasselbe gilt für die Einnahme von Omega-3-Produkten wie zum Beispiel Fischölkapseln. Ist die Produktqualität nicht einwandfrei, so konsumiert der:die Kund:in reichlich verdorbenes Fischöl in unverdaulicher Kapselhülle. Das bedingt Magen-Darm-Verstimmungen und nicht die erwünschte Vorbeugung von Arterienverkalkung.

Welche Nahrungsergänzungsmittel kann man bedenkenlos supplementieren und bei welchen Inhaltsstoffen ist Vorsicht geboten?

Um diese Frage zu beantworten, fehlt mir als Diätologin die Kompetenz. In meiner Praxis sehe ich aber positive Veränderungen des Fettstoffwechsels nach kontrollierter Einnahme von hochwertigen Omega-3-Produkten. Ebenso spricht zur Unterstützung der Darmflora nichts gegen die zeitweilige Einnahme von Mikroorganismen und Faserstoffen. Zur Anregung der Leberfunktion eignen sich Mariendistelextrakt und natürliche Bitterstoffe. Hierbei handelt es sich um Auszüge aus natürlichen Lebensmitteln in konzentrierter Form und nicht um einzelne Vitamine oder Mineralstoffe.

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Gibt es bestimmte Krankheiten oder Voraussetzungen, bei denen Supplemente auf jeden Fall angeraten sind?

Aus diätologischer Sicht ist bei diversen Lebensmittelallergien und -intoleranzen, bei denen ganze Nahrungsmittelgruppen wie zum Beispiel Obst strikt vermieden werden, die Einnahme eines ärztlich empfohlenen Vitamin- und Mineralstoffpräparats empfehlenswert. Wer vegan lebt, sollte zur Gesunderhaltung einige kritische Nährstoffe substituieren, allem voran Eisen, Vitamin B12, Selen, Omega 3 sowie Vitamin D3 und K2. Eisen gilt als das „Frauenmineral“ schlechtweg.

Menstruationsbedingt brauchen Frauen von der Pubertät bis zur Menopause mehr Eisen als Männer. Laut der Biogena Good Health Study leiden 37,7 Prozent der Frauen an Eisenmangel – die Aufnahme über reguläre Ernährung gelingt hier nicht. Eisenmangel kann von Müdigkeit und Haarausfall über Infektanfälligkeit bis hin zu tödlicher Blutarmut, also Eisenmangelanämie, führen. In diesem Fall ist eine Substitution dringend anzuraten.

Aus diätologischer Sicht ist bei diversen Lebensmittelallergien und -intoleranzen, die Einnahme eines ärztlich empfohlenen Vitamin- und Mineralstoffpräparats empfehlenswert.

Karin Ratschiller, Diätologin

Wie stelle ich fest, ob ich einen Nährstoffmangel habe?

Die seriöseste Variante ist eine Vollblutanalyse durch eine:n Orthomolekular-Mediziner:in. Dabei wird sowohl der intra- als auch extrazelluläre Anteil der Vitamin- und Mineralstoffe erfasst, was eine umfassende Beurteilung des Versorgungsstandes möglich macht.

Wirken synthetische Vitamine und Mineralstoffe genauso gut wie natürliche, die wir über die Nahrung aufnehmen?

Nein. Die Bioverfügbarkeit – also die Aufnahme von Wirkstoffen über unseren Darm und die Verwertbarkeit in unserem Körper – ist bei synthetischen Vitaminen deutlich geringer als bei Vitaminen aus der Nahrung. Ist die Bioverfügbarkeit von Vitamin C aus einem Apfel 100 Prozent, so liegt sie bei synthetischer Ascorbinsäure nur bei rund 30 Prozent.

Gerade in der Erkältungszeit sind sogenannte Immun-Booster sehr gefragt. Können Vitaminkapseln das Immunsystem wirklich stärken?

Dass die Einnahme von Vitamin-C-Kapseln Erkältungen vorbeugen oder ihre Dauer verkürzen kann, ist leider ein Mythos. Was hilft, ist die kurzzeitige Einnahme von hochdosiertem gepuffertem Vitamin C in Reinsubstanz aus der Apotheke beim Auftreten der Erkältung. Sie reduziert im besten Fall die Krankheitsdauer von sieben auf sechs Tage.

Wie steht es um Nahrungsergänzungsmittel mit kosmetischen Versprechungen, wie „Haut, Haare, Nägel“-Komplexe, „Fettstoffwechselbooster“ oder „Kohlenhydratblocker“?

Es gibt Mineralstoffe, Vitamine und bioaktive Substanzen, denen verschiedene gesundheitsfördernde Wirkungen nachgewiesen werden. Kieselsäure beispielsweise – also organisches Silizium – unterstützt das Wachstum von Haaren, Haut und Nägeln, L-Carnitin gilt als Fettstoffwechselbooster und kann zu vermehrtem Fettabbau in der Zelle führen – allerdings nur bei entsprechender Ernährung und Bewegung.

Kohlenhydratblocker wie Glucomannan oder grüner Kaffeeextrakt verzögern lediglich die Aufnahme von Stärke und können dadurch den Blutzucker flach halten, dafür führen sie häufig zu lästigen Blähungen und Darmbeschwerden. Ein Großteil der Produkte verspricht mehr, als sie halten können.

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Sind teure Nahrungsergänzungsmittel automatisch besser als jene aus dem Drogeriemarkt? Worauf kann man in puncto Qualität achten?

Beim Kauf von Nahrungsergänzungsmitteln sollte man auf Reinsubstanzen achten – das heißt, dass dem Produkt keinerlei unnötige Stoffe zugesetzt sind. Das Produkt sollte zudem frei von Zusatz- und Konservierungsmitteln sein. Ein Nahrungsergänzungsmittel in Reinsubstanz ist teurer, hat dafür eine bessere Bioverfügbarkeit und gesundheitlichen Nutzen.

Als Diätologin sehe ich immer unsere Ernährung als erste Medizin. Unsere Gesellschaft neigt dazu, zur Gewissensberuhigung lieber morgens eine Handvoll Nahrungsergänzung zu schlucken, anstatt den Tag mit einem gesunden Frühstück zu starten. Dass dies langfristig nicht der richtige Zugang ist, versteht sich von selbst.

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MEHR ÜBER DIE AUTORIN DIESES BEITRAGS:

Stellvertretende Chefredakteurin und Redakteurin für Style, Beauty und Gesundheit der TIROLERIN, Andrea Lichtfuss
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Andrea Lichtfuss ist Stv. Chefredakteurin der TIROLERIN und für die Ressorts Beauty, Style und Gesundheit zuständig. Sie mag Parfums, Dackel und Fantasyromane. In ihrer Freizeit findet man sie vor der X-Box, beim Pub-Quiz oder im Drogeriemarkt.

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