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Immer mehr Kinder werden zu Social-Media-Stars – teils mit Millionenpublikum. Doch was auf YouTube, TikTok & Co nach Spaß aussieht, wirft ernste Fragen zu Kinderrechten, Ausbeutung und Verantwortung auf.
Text: Tjara-Marie Boine und Leonie Werus
Wenn eine Elfjährige vor der Kamera ihren neuen Schreibtisch dekoriert oder ein Vierjähriger Geschenke auspackt, dann ist das längst mehr als nur süßer Internetcontent. Was früher als Familienalbum galt, ist heute für viele ein Geschäftsmodell – mit Likes, Klicks und manchmal auch einem beachtlichen Einkommen. Beispiele von Kinderinfluencer:innen wie „Ryan’s World“ oder der österreichische Kanal „Ilias Welt“ zeigen, wie rasant Kinder durch Social Media zu Marken werden – oft mit Unterstützung der Eltern, manchmal auf ihre Kosten.
Likes statt Lego.
Die Netflix-Serie „Bad Influence: Die Schattenseite von Kidfluencing“ gibt dieser Entwicklung nun ein beunruhigendes Gesicht. Im Zentrum steht die amerikanische Influencerin Piper Rockelle, die bereits mit acht Jahren erste Videos postete. Heute werfen ehemalige Wegbegleiter:innen ihrer Mutter vor, sie systematisch ausgebeutet und emotional misshandelt zu haben. Was die Serie zeigt, lässt kaum Raum für Zweifel: Kindliche Unbeschwertheit ist in dieser Branche oft nur Fassade. Gedreht wird bis spät in die Nacht, Tränen inklusive – denn: „The show must go on.“

Wenn die Kindheit zur Marke wird.
Doch was bedeutet das für Kinderrechte im digitalen Raum? Welche Schutzmechanismen greifen in Österreich? Und wie viel Einfluss dürfen Eltern auf die Onlinepräsenz ihres Nachwuchses nehmen? Wir haben mit Sebastian Holzknecht, Medienpädagoge und Experte bei „Safer Internet“, gesprochen. Im Interview erklärt er, warum Kidfluencing mehr als ein harmloser Trend ist, wo rechtliche Lücken bestehen – und wie Familien ihre Kinder im Netz schützen können.

Kidfluencing boomt. Was macht diesen Trend aus Ihrer Sicht so gefährlich – und was wird daran vielleicht unterschätzt?
Sebastian Holzknecht: Die Gefahr liegt in der Ausbeutung – Kinder werden teils gezielt für Reichweite und Werbeeinnahmen eingesetzt, ohne dass sie die Folgen überblicken. Oft wird unterschätzt, wie sehr die ständige Onlinepräsenz ihre Privatsphäre, Freizeit und Entwicklung beeinträchtigen kann. Hinzu kommt, dass viele Kinder unter Druck stehen, ständig neue Inhalte zu liefern – das kann Stress und Überforderung auslösen. Auch die Grenze zwischen Spiel und Arbeit verschwimmt, was langfristig problematisch für die kindliche Entwicklung ist.
Wenn die Grenze zwischen Spiel und Arbeit verschwimmt, kann das langfristig problematisch für die kindliche Entwicklung sein.
Sebastian Holzknecht, Medienexperte
Gibt es in Österreich Regeln, wie viel ein Kind auf Social Media „arbeiten“ darf?
Es bleibt eine rechtliche Grauzone. Das Gesetz verbietet Kinderarbeit zwar grundsätzlich, aber für Kidfluencer:innen fehlt es an klaren Vorgaben, wie viel Zeit Kinder investieren dürfen oder wie sie vor wirtschaftlicher Ausbeutung geschützt werden. Ich denke, dass man hier zukünftig nachschärfen muss – im Sinne der Kinder.
Was sagt der Kinderschutz zum Thema Onlinereichweite? Ist es in Ordnung, wenn ein Vierjähriger eine halbe Million Follower:innen hat?
Aus Sicht des Kinderschutzes ist das sehr bedenklich. Kinder in diesem Alter verstehen nicht, was Reichweite bedeutet und sind dadurch besonders verletzlich – etwa für Datenschutzverletzungen oder digitale Gewalt. Zudem kann die Öffentlichkeit zu einer dauerhaften Selbstinszenierung führen, die nicht ihrem Alter entspricht und ihre Entwicklung negativ beeinflusst. Auch das Kind wird älter und sollte ein Recht darauf haben, sein Bild im Internet selbstbestimmt und vor allem bewusst zu prägen.

Stichwort selbstbestimmt: Die Netflix-Serie „Bad Influence“ zeigt, dass oft Eltern hinter den Accounts stecken. Wie stark beeinflussen Eltern die Onlinekarriere ihrer Kinder?
Eltern haben besonders bei jüngeren Kindern oft die Kontrolle über deren Onlineaktivitäten. Unterstützung kann jedoch schnell in Kontrolle umschlagen – nämlich dann, wenn nicht mehr das Wohl des Kindes, sondern die Interessen der Eltern im Vordergrund stehen. Problematisch wird es, wenn Kinder keine echte Entscheidungsfreiheit mehr haben und nur noch „funktionieren“ sollen. Deshalb braucht es klare Grenzen und ein Bewusstsein dafür, dass Likes und Klicks keine Legitimation für Überforderung sind.
Bei all den Gefahren: Gibt es auch positive Seiten, wenn Kinder kreativ und selbstbestimmt auftreten?
Influencing ist nicht per se schlecht. Es kann empowernd sein, wenn Kinder sich kreativ ausdrücken, eigene Ideen umsetzen und ein positives digitales Selbstbild entwickeln. Entscheidend ist aber, dass sie freiwillig mitmachen, selbst mitentscheiden dürfen – und nicht unter Druck stehen, Erwartungen von außen zu erfüllen. Nur wenn Schutz, Mitbestimmung und Raum für echte Freizeit gegeben sind, kann es wirklich eine bereichernde Erfahrung sein.
Dass Eltern ihre Kinder beim Spielen, Basteln oder Tanzen filmen – oft mit besten Absichten – ist ja keine Seltenheit. Ab wann wird daraus ein Problem?
Es wird problematisch, wenn Kinder kein Mitspracherecht haben oder nicht verstehen, was mit den Videos passiert. Auch gute Absichten können zu Übergriffen in die Privatsphäre führen, wenn intime oder peinliche Momente online sind. Je jünger das Kind, desto mehr Schutz braucht es – nicht alles, was süß wirkt, gehört ins Netz. Wichtig ist: Auch Kinder haben ein Recht am eigenen Bild – und auf ein digitales „Vergessenwerden“.

Welche Verantwortung tragen auf der anderen Seite YouTube, TikTok und Co für den Schutz junger Creator:innen?
Eine sehr große. Plattformen müssen sicherstellen, dass Minderjährige besonders geschützt werden – durch Altersverifikation, klare Regeln und Mechanismen gegen Missbrauch. Diesbezüglich besteht allerdings noch sehr viel Luft nach oben. Darum sollten Eltern nicht auf die Plattformen vertrauen, sondern ihre eigene Verantwortung dem Kind gegenüber wahrnehmen.
Was raten Sie Familien, deren Kinder gerne ins Netz wollen?
Der wichtigste Tipp ist: Begleitung statt Verbot. Eltern sollten gemeinsam mit ihren Kindern Inhalte erstellen, über Privatsphäre sprechen und klare Grenzen setzen – beispielsweise keine echten Namen, keine Alltagsroutinen oder Wohnorte zeigen. Private Profile, kontrollierter Zugang und medienpädagogische Begleitung helfen, sich sicher auszuprobieren, ohne zu viel preiszugeben. Es geht nicht darum, alles zu verbieten, sondern ums bewusste, geschützte Mitmachen.
Welche Rolle spielt Medienbildung heute im Umgang mit solchen Phänomenen? Und wie kann man Kinder stark für die digitale Welt machen?
Medienbildung ist heute genauso wichtig wie Lesen oder Rechnen. Wissen über Datenschutz, Selbstschutz und den kritischen Umgang mit Medien ist für Kinder unerlässlich. Dazu gehört auch, die Mechanismen hinter Likes, Algorithmen und Werbung zu verstehen. Wer die digitale Welt durchblickt, kann sich besser darin bewegen – und ist weniger anfällig für Druck, Vergleiche oder Manipulation. Schulen, Eltern und Politik müssen hier gemeinsam Verantwortung übernehmen.
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Tjara-Marie Boine ist Redakteurin für die Ressorts Business, Leben und Kultur. Ihr Herz schlägt für Katzen, Kaffee und Kuchen. Sie ist ein echter Bücherwurm und die erste Ansprechpartnerin im Team, wenn es um Themen wie Feminismus und Gleichberechtigung geht.

Leonie Werus betreut die Ressorts Genuss, Wohnen und Freizeit. Sie ist ein echter Workhaholic und weiß es jede Minute gut für sich zu nutzen. Mit ihren Airfryer, liebevoll Fritti genannt, probiert sie gerne neue Rezepte und versucht nebenbei das TIROLERIN-Team zum Sport zu motivieren – meist leider vergeblich.